Die Grünen-Politikerin Renate Künast hat nach jahrelangem Rechtsstreit nunmehr endgültig vor dem Kammergericht Berlin gewonnen. Die Politikerin sah sich auf Facebook zahlreichen Hasskommentaren ausgesetzt. Das Landgericht Berlin erachtete im September 2019 zunächst alle Hasskommentare (z.B. "Drecksfotze", "Schlampe", "Sondermüll") als zulässige Meinungsäußerung, stufte nach Beschwerde von Künast im Januar 2020 immerhin 6 Kommentare doch als unzulässig ein. Das Kammergericht stufte im März 2020 weitere Kommentare als rechtswidrig ein; nicht jedoch z.B. „Pädodreck“ oder „Pädophilen-Trulla“. Nach dem das Bundesverfassungsgericht den Berliner Gerichten im Dezember 2021 bescheinigt hatte, dass auch solche Beleidigungen nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, änderte das Kammergericht seine Ansicht (KG, Beschluss vom 31.10.2022) und stufte auch die letzten 10 Hasskommentare als strafbare Beleidigungen ein. Facebook muss daher nun die Daten von allen Nutzern an Frau Künast herausgeben.
Nachstehend der Beschluss des KG vom 31.10.2022, AZ 10 W 13/20 in Langform:
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 09.09.2019 - 27 AR 17/19 - in der Gestalt des teilweise abhelfenden Beschlusses des Landgerichts Berlin vom 21.01.2020 geändert und die Auskunftserteilung über die bereits mit Beschluss des Senats vom 11.03.2020 – 10 W 13/20 - bewilligte Gestattung hinaus weiter in folgendem Umfang genehmigt:
Die Auskunftserteilung wird zusätzlich zu folgenden Bestands- und Nutzerdaten der auf der Plattform X registrierten Nutzer unter den Nutzernamen
- „X“, URL: X
- „X“, URL: X
- „X“, URL: X
- „X“, URL: X
- „X“, URL: X
- „X“, URL: X
- „X“, URL: X
- „X“, URL: X
- „X“, URL: X
- „X“, URL: X
durch Angabe der folgenden, bei der Beteiligten hinterlegten Daten:
a. IP-Adressen, die von dem jeweiligen Nutzer für das Hochladen der unter dem Nutzernamen abrufbaren Beiträge und Bilder verwendet wurden, nebst genauem
Zeitpunkt des Hochladens unter Angabe des Datums und der Uhrzeit inklusive Minuten, Sekunden und Zeitzone (Uploadzeitpunkt)
b. Namen des jeweiligen Nutzers
c. E-Mail-Adresse des jeweiligen Nutzers
d. IP-Adresse, die von dem jeweiligen Nutzer zuletzt für einen Zugriff auf sein Nutzerkonto unter dem jeweiligen Nutzernamen verwendet wurde, nebst genauem Zeitpunkt des Zugriffs unter Angabe des Datums und der Uhrzeit inklusive Minuten, Sekunden und Zeitzone (Zugriffszeitpunkt).
gestattet.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens nach einem Wert bis zu 25.000 € zu tragen.
Gründe
A.
Die Antragstellerin, eine bundesweit bekannte Politikerin der Partei X, begehrt die gerichtliche Anordnung über die Zulässigkeit der Auskunftserteilung hinsichtlich zahlreicher Nutzerdaten. Es handelt sich um die Daten von 22 Nutzern der von der Beteiligten betriebenen Social-Media-Plattform „X“. Diese haben einem von einem anderen Blogger ebenfalls auf „X“ veröffentlichten Text- und Bildbeitrag („Ausgangspost“), der der Antragstellerin ein verfälschtes Zitat in den Mund legt, herabsetzende Kommentare hinzugefügt, die nach Auffassung der Antragstellerin ihrerseits jeweils den Tatbestand eines Beleidigungsdelikts im Sinne des Strafgesetzbuches (StGB) erfüllen.
Der Ausgangspost enthielt das Zitat der Antragstellerin, „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist“, welches der Blogger zu der Aussage ergänzte: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist der Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt“. Anders als das gesamte, mit einem Foto der Antragstellerin versehene vermeintliche Zitat es dem Leser aufdrängte, hat die Antragstellerin sich so nicht geäußert. Lediglich der erste Halbsatz stammte von ihr. Es handelte sich um einen Zwischenruf, den die Antragstellerin als Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses im Jahr 1986 im Rahmen einer Debatte zum Thema „häusliche Gewalt“ auf eine Zwischenfrage eines Abgeordneten nach der Haltung einer Rednerin aus der Partei „X“ zu einem Beschluss über eine Entkriminalisierung von einvernehmlichem Sex mit Minderjährigen angebracht hatte.
Das Landgericht Berlin hatte die Anträge der Antragstellerin mit seinem Beschluss vom 09.09.2019, 27 AR 17/19, zunächst insgesamt zurückgewiesen. Es hat der Beschwerde der Antragstellerin durch den weiteren Beschluss vom 21.01.2020 teilweise abgeholfen und die Auskunftserteilung über die beantragten Nutzerdaten hinsichtlich folgender Kommentare (...) gestattet:
- „Dieses Stück Scheisse. Überhaupt so eine Aussage zu treffen zeugt von kompletter Geisteskrankheit"
- „schlampe“,
- „Drecks Fotze“,
- „Diese hohle Nuß gehört entsorgt, aufe Mülldeponie aber man darf ja dort keinen Sondermüll entsorgen
- „Schlamper“,
- „Ferck du Drecksau“
Der Senat hat auf die von der Antragstellerin mit der Beschwerde weiter verfolgte Gestattung der Auskunftserteilung durch Beschluss vom 11.03.2020 in Bezug auf sechs der weiter verfahrensgegenständlichen 16 Freigabeverfahren entsprochen (Nr. 1., 2., 7., 8. 17. und 21. der Antrags- bzw. Beschwerdeschrift) und die Beschwerde im Übrigen zurückgewiesen. Er hat ferner mit Beschluss vom 06.04.2020 die Anhörungsrüge der Antragstellerin zurückgewiesen.
Das Bundesverfassungsgericht hat auf die Verfassungsbeschwerde der Antragstellerin mit Beschluss vom 19.12.2021 – X – (X) die Beschlüsse des Senats vom 11.03.2020 und 06.04.2020 -10 W 13/20- aufgehoben, soweit sie zum Nachteil der Beschwerdeführerin ergangen sind und die Sache insoweit zur erneuten Entscheidung an das Kammergericht zurückverwiesen.
B.
Der Senat erachtet die Beschwerde der Antragstellerin hinsichtlich der nach Zurückverweisung des Verfahrens durch das Bundesverfassungsgericht (X) noch verfahrensgegenständlichen Äußerungen:
- „Pädophilen-Trulla“,
- „Die alte hat doch einen Dachschaden die ist hol wie Schnittlauch ..."
- „Mensch…was bist Du Krank im Kopf!!!“,
- „Die ist Geisteskrank“,
- „Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren“,
- „Sperrt diese kranke Frau weck sie weiß nicht mehr was sie redet“,
- „Die sind alle so krank im Kopf“,
- „Gehirn Amputiert“,
- „Kranke Frau“,
- „Sie wollte auch Mal die hellste Kerze sein, Pädodreck.“
nach erneuter Überprüfung unter Einbeziehung der vom Bundesverfassungsgericht präzisierten Abwägungskriterien für begründet. Die Rechtsverfolgung der Antragstellerin hat demnach insgesamt Erfolg.
Der Antragstellerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung der datenschutzrechtlichen Erlaubnis gemäß § 14 Abs. 4 TMG a.F. zu. Die beanstandeten Äußerungen erweisen sich im Ergebnis der vorzunehmenden Abwägung als Beleidigungen nach § 185 StGB. Die Voraussetzung für eine richterliche Gestattung, die in der Verwirklichung eines der in § 1 Abs. 3 NetzDG a.F. aufgeführten Straftatbestände besteht, ist somit gegeben.
Der Senat hält daran fest, dass es sich bei den beanstandeten Äußerungen um Werturteile im Sinne von erheblich ehrenrührigen Bezeichnungen und Herabsetzungen der Antragstellerin und nicht um Tatsachenbehauptungen handelt. Der Anwendungsbereich des Beleidigungstatbestandes des § 185 StGB ist damit eröffnet. Wenn der Senat in seinem Beschluss vom 11.03.2020 davon ausgegangen ist, dass im Hinblick auf die widerstreitenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen des Persönlichkeitsschutzes und der Menschenwürde (Art. 1, Art. 2 GG) einerseits sowie der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) andererseits eine Abwägung zu erfolgen hat, in der die Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung der Einbuße an Meinungs- und Äußerungsfreiheit, die durch ihr Verbot verursacht wird, gegenüberzustellen ist, so steht dies in Übereinstimmung mit dem, was das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung vorgibt.
Die im vorliegenden Verfahren ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (X) enthält noch keine bindende Feststellung dazu, ob die noch verfahrensgegenständlichen Äußerungen im konkreten Kontext gemäß § 185 StGB strafbar sind oder nicht. Die Grenze der Strafbarkeit einer solchen Äußerung ist im Hinblick auf die Abwägung der widerstreitenden Belange auch nicht bereits dort erreicht, wo eine polemische Zuspitzung unangemessen erscheint (...).
Die Entscheidung obliegt damit dem Senat als Fachgericht, dem bei der anzustellenden Abwägung ein Wertungsrahmen zukommt (...). Mit welchem Ergebnis die widerstreitenden verfassungsrechtlich geschützten Rechte in diesem Zusammenhang gewichtet werden, ist zwar grundsätzlich offen. Wie das Bundesverfassungsgericht mit dem nach der Beschwerdeentscheidung des Senats ergangenen Beschluss vom 19.05.2020 (...) entschieden hat, bedarf es jedoch einer der konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit Rechnung tragenden Begründung für den Fall, dass Äußerungen hinter den Persönlichkeitsschutz zurücktreten sollen.
Zu den maßgeblichen Abwägungskriterien hat das Bundesverfassungsgericht vorliegend (...) unter Bezugnahme auf seine – nach der Beschwerdeentscheidung des Senats gefasste - Entscheidung vom 19.05.2020 – 1 BvR 2397/19 – nach Ansicht des Senats und verschiedener Auffassungen in der Literatur (...) eine Fortentwicklung bzw. Klarstellung gegenüber der bisherigen Rechtsprechung vorgenommen und ausgeführt (...), dass das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit umso höher ist, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht. Dies ergibt sich, wie das Bundesverfassungsgericht (...) ausführt, als Konsequenz daraus,
"dass der Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet. Teil dieser Freiheit ist, dass Bürgerinnen und Bürger von ihnen als verantwortlich angesehene Amtsträgerinnen und Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen können, ohne befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente solcher Äußerungen aus diesem Kontext herausgelöst werden und die Grundlage für einschneidende gerichtliche Sanktionen bilden. In die Abwägung ist daher einzustellen, ob die Privatsphäre der Betroffenen oder ihr öffentliches Wirken mit seinen - unter Umständen weitreichenden - gesellschaftlichen Folgen Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität der Betroffenen von einer Äußerung ausgehen können (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 30).
Unter dem Aspekt der Machtkritik haben die Gerichte auch Auslegung und Anwendung des Art. 10 Abs. 2 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu berücksichtigen. In ständiger Rechtsprechung betont der Gerichtshof, dass die Grenzen zulässiger Kritik an Politikerinnen und Politikern weiter zu ziehen sind als bei Privatpersonen (...). Insofern Politikerinnen und Politiker bewusst in die Öffentlichkeit treten, unterscheidet sich ihre Situation von derjenigen staatlicher Amtswalter, denen ohne ihr besonderes Zutun im Rahmen ihrer Berufsausübung eine Aufgabe mit Bürgerkontakt übertragen wurde (...).
Allerdings bleiben die Gesichtspunkte der Machtkritik und der Veranlassung durch vorherige eigene Wortmeldungen im Rahmen der öffentlichen Debatte in eine Abwägung eingebunden und erlauben nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgerinnen und Amtsträgern oder Politikerinnen und Politikern. Gegenüber einer auf die Person abzielenden, insbesondere öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze setzt die Verfassung allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen und nimmt hiervon Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträgerinnen und Amtsträger nicht aus. Auch hier sind Äußerungen desto weniger schutzwürdig, je mehr sie sich von einem Meinungskampf in die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Fragen wegbewegen und die Herabwürdigung der betreffenden Personen in den Vordergrund tritt. Welche Äußerungen sich Personen des öffentlichen Lebens gefallen lassen müssen und welche nicht, liegt dabei nicht nur an Art und Umständen der Äußerung, sondern auch daran, welche Position sie innehaben und welche öffentliche Aufmerksamkeit sie für sich beanspruchen.
Dabei liegt insbesondere unter den Bedingungen der Verbreitung von Informationen durch "soziale Netzwerke" im Internet ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgerinnen und Amtsträgern sowie Politikerinnen und Politikern über die Bedeutung für die jeweils Betroffenen hinaus im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken kann. Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist (vgl. BVerfGE 152, 152 <199 Rn. 108> - Recht auf Vergessen I; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 32).
(3) Mit Blick auf Form und Begleitumstände einer Äußerung kann nach den Umständen des Falles insbesondere erheblich sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist. Denn für die Freiheit der Meinungsäußerung wäre es besonders abträglich, wenn vor einer mündlichen Äußerung jedes Wort auf die Waagschale gelegt werden müsste. Der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit impliziert - in den Grenzen zumutbarer Selbstbeherrschung - die rechtliche Anerkennung menschlicher Subjektivität und damit auch von Emotionalität und Erregbarkeit. Demgegenüber kann bei schriftlichen Äußerungen im Allgemeinen ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung erwartet werden. Dies gilt - unter Berücksichtigung der konkreten Kommunikationsumstände - grundsätzlich auch für textliche Äußerungen in den "sozialen Netzwerken" im Internet. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls erheblich, ob und inwieweit für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand oder ob sie aus nichtigen oder vorgeschobenen Gründen getätigt wurde (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 33).
(4) Ebenfalls bei der Abwägung in Rechnung zu stellen ist die konkrete Verbreitung und Wirkung einer Äußerung (vgl. ebenso für zivilrechtliche Löschungsverlangen und Unterlassungsansprüche BVerfGE 152, 152 <204 f. Rn. 125> - Recht auf Vergessen I). Maßgeblich hierfür sind Form und Begleitumstände der Kommunikation. Erhält nur ein kleiner Kreis von Personen von einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung Kenntnis oder handelt es sich um eine nicht schriftlich oder anderweitig perpetuierte Äußerung, ist die damit verbundene Beeinträchtigung der persönlichen Ehre geringfügiger und flüchtiger als im gegenteiligen Fall. Demgegenüber ist die beeinträchtigende Wirkung einer Äußerung beispielsweise gesteigert, wenn sie in wiederholender und anprangernder Weise, etwa unter Nutzung von Bildnissen der Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium getätigt wird. Ein solches die ehrbeeinträchtigende Wirkung einer Äußerung verstärkendes Medium kann insbesondere das Internet sein, wobei hier nicht allgemein auf das Medium als solches, sondern auf die konkrete Breitenwirkung abzustellen ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 34).
ff) Diese dargelegten Gesichtspunkte, die für die konkrete Abwägung relevant sein können, müssen dabei nicht in jedem Fall in ihrer Gesamtheit "abgearbeitet" werden. Vielmehr ist es Aufgabe der Fachgerichte, aufgrund der Umstände des Einzelfalles die je abwägungsrelevanten Gesichtspunkte herauszuarbeiten und miteinander abzuwägen. Je nach den Umständen kann eine recht knappe Abwägung ausreichen. Maßgeblich ist, dass die konkrete Situation der Äußerung erfasst und unter Berücksichtigung der auf beiden Seiten betroffenen Grundrechte hinreichend gewürdigt wird (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2397/19 -, Rn. 35).“
In seiner Entscheidung vom 19.05.2020 – 1 BvR 2397/19 –, welcher eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung in Bezug auf in einem Internetblog veröffentlichte Äußerungen zu Grunde lag, hat das Bundesverfassungsgericht ferner ausgeführt, dass sowohl der ehrschmälernde Gehalt als auch die Breitenwirkung der Äußerungen gravierend und maßgeblich - zu Lasten des sich Äußernden - zu berücksichtigen gewesen seien (aaO., Rn. 43).
Zu den aufgezeigten allgemeinen Abwägungsgrundsätzen tritt hier die besonders gelagerte Konstellation hinzu, dass die noch verfahrensgegenständlichen Kommentare sich als nur scheinbar geeignet erweisen, im Rahmen eines Meinungskampfes in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage überhaupt einen Beitrag zu leisten. Denn tatsächlich ging die verbale Eskalation auf eine aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissene Äußerung zurück, die die Antragstellerin nicht nur so gar nicht getätigt hatte, sondern die ihre maßgebliche negative Aufladung vor allem durch die anderweitig „hinzuerfundenen“ Bestandteile erlangt hatte.
Ausgehend hiervon gebührt dann aber dem Schutz des Persönlichkeitsrechts der Antragstellerin gegenüber dem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit der Vorrang. Die zweifellos stark ehrbeeinträchtigenden verbalen Entgleisungen sind durchweg als Beleidigung gemäß § 185 StGB zu qualifizieren.
Im Einzelnen:
Der Senat hat bereits im Beschluss vom 11.03.2020 (S. 9) ausgeführt, dass die hier noch verfahrensgegenständlichen Äußerungen allesamt in Bezug auf die Antragstellerin ehrenrührig und herabsetzend sind. Dies ergibt sich ohne weiteres aus dem Wortlaut wie auch aus dem Kontext, in welchem sie Kommentare stehen, ohne dass es weiterer Begründung bedarf (ähnlich: BVerfG – 1 BvR 362/18 -, aaO., Rn. 28). Das Gewicht der Ehrbeeinträchtigung wie auch die Zielrichtung der einzelnen Äußerungen divergiert, vergleicht man deren inhaltlichen „Gehalt“, allenfalls marginal. Denn der Antragstellerin wird mit den jeweils verwendeten Vulgarismen unter Umkehrung der von ihr – vermeintlich – begangenen Schwellenverletzung ein abnormaler Geisteszustand, eine psychische Krankheit bzw. eine mangelnde Intelligenz zugeschrieben. Es besteht ausgehend hiervon weder Raum noch Anlass dafür, an die gleichermaßen unangemessenen und abwertenden Äußerungen unterschiedliche Maßstäbe anzulegen.
Alle Äußerungen kommentieren das im Ausgangspost vom 27.03.2019 (vgl. Schriftsatz der Antragstellerin vom 06.12.2019, S. 2 + Anl. MK 6) im Zentrum stehende, der Antragstellerin unzutreffend zugeschriebene Zitat, demzufolge sie nichts gegen Sex mit Kindern einwende, wenn keine Gewalt im Spiel sei. Urheber des Ausgangsposts war der Inhaber des bei der Beteiligten, der Betreiberin des sozialen Netzwerkes, unterhaltenen Nutzerkontos. Dieser hatte in dem Ausgangspost zu Beginn die Mitteilung vorangestellt, die Antragstellerin „zerre“ ihn vor Gericht und beanspruche ein Schmerzensgeld, obwohl der Prozess vor dem Amtsgericht X noch nicht begonnen habe; ferner, dass die Zeitung „X“ über die skandalösen Äußerungen der Antragstellerin berichtet habe. Ergänzt wurde diese Mitteilung durch eine Verlinkung auf einen Eintrag in einem von ihm ferner unterhaltenen Internet-Blog aus dem Jahr 2016, in welchem sich ebenfalls das Fehlzitat befand, aber zusätzlich ein Auszug aus einem Artikel der „X“ abgedruckt war. Daraus war ersichtlich, dass sich die Antragstellerin nicht wie angegeben und ferner in einem anderen Kontext in einer Parlamentsdebatte im Jahr 1986 geäußert hatte.
In Anbetracht dieses Vorlaufs kann dem Recht auf Meinungsfreiheit nicht ein vergleichbar hohes Gewicht beigemessen werden, wie es einer Äußerung zukommt, die einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung leistet bzw. leisten kann. Vielmehr handelte es sich bei den Kommentaren um die Reaktion auf ein Fehlzitat, welches bei sorgfältiger Berücksichtigung des Hintergrundes und des Kontextes als interessengesteuerter Vergeltungsschlag des Verfassers identifizierbar gewesen wäre. Beziehen sich aber sämtliche noch verfahrensgegenständliche Äußerungen mit der hier geschehenen, stark ehrenrührigen und polemischen Aufladung zum Nachteil der Antragstellerin auf eine Aussage, die die Antragstellerin überhaupt nicht kundgetan hat, sind diese Kommentare schon aus objektiver Sicht nicht geeignet, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten. Zwar mag mit dem Falschzitat in dem Ausgangspost eine in früherer Zeit in der Partei der Antragstellerin vertretene Haltung zu einer angestrebten Entkriminalisierung von „einvernehmlichem“ Sex mit Minderjährigen wiedergegeben werden, die grundsätzlich kritisch und auch in scharfer Form kommentiert werden darf. Dies setzt aber voraus, dass entsprechende verbale Attacken sich gegen diejenigen richten, die ehemals eine solche Haltung vertreten haben. Bei der Antragstellerin war dies nicht der Fall. Eine Herabsetzung ihrer Person, die sich wie hier geschehen, allein an einem zu ihren Lasten konstruierten Szenario festmacht, verfehlt ihre Berechtigung bereits im Ansatz; auf die Frage, wann, ob und mit welchen Inhalten das brisante Thema gesellschafts- und justizpolitisch legitimerweise diskutiert wurde oder nicht, kommt es dann nicht mehr entscheidend an.
Der Senat hält den Kommentierenden, wie auch schon im Beschluss vom 11.03.2020, zwar im Ausgangspunkt weiterhin zugute, dass nicht unterstellt werden kann, dass ihnen die Verfälschung des Ausgangsposts überhaupt bekannt gewesen ist und sie diesen wider besseres Wissen als äußeren Anlass für herabsetzende Kommentare entfremdet haben. Den von der Antragstellerin eingereichten Screenshots ist zu entnehmen, dass einige Kommentierende die Richtigkeit des Ausgangsposts durchaus hinterfragt haben (...). Tragfähige Tatsachen oder Indizien, die ein wissentlich missbräuchliches Vorgehen in Bezug auf ins Blaue hinein hinterlassene und die verfahrensgegenständlichen Kommentare rechtfertigen könnten, sind aber nicht gegeben. Der zu Gunsten der Antragstellerin wirkende Umstand, dass es sich bei dem Urheber des Ausgangsposts um einen bekannten Aktivisten handelt, der sich im Internet mit einer Hetze gegen Personen des liberalen bis linken politischen Lagers hervortut und eine Schar von „Fans und Followern“ aufweist, genügt dafür jedenfalls nicht. Es kann folglich nicht ohne weiteres von einer „Versammlung“ von Nutzern zu einer Hetzkampagne ausgegangen werden.
Bei erneuter Bewertung der konkreten Umstände wirkt es jedoch zu Lasten der Kommentierenden, dass aufgrund der Gestaltung des Ausgangsposts für jeden durchschnittlich aufmerksamen Leser Anhaltspunkte dafür bestanden, dass es sich hier bei der vermeintlich zum Ausdruck kommenden Haltung zu einer höchst brisanten Thematik nicht um eine wortgetreue Wiedergabe eines Zitats der Antragstellerin handeln konnte. Denn zum einen war das präsentierte „Zitat“ in eine Bild-/Textmontage eingebettet, zum anderen ergab es sich aus dem Eingangstext, dass es sich um einen Post eines Nutzers handelte, der seinerseits deshalb von der betroffenen Antragstellerin gerichtlich in Anspruch genommen wurde, unter anderem auf Zahlung eines „Schmerzensgeldes“.
In Anbetracht dieser Umstände und des zu beobachtenden und allgemein bekannten Phänomens der Verbreitung von Falschmeldungen über das Internet („fake news“), die gezielt zu Desinformationszwecken oder zur Stimmungsmache gegen Meinungen oder Personen eingesetzt werden (Erzeugung von „shitstorms“), muss von den Rezipienten des Ausgangsposts jedenfalls in der hier gegebenen Konstellation erwartet werden, dass sie Vorsicht und Mäßigung walten ließen. Bevor berechtigterweise davon ausgegangen werden konnte, dass sich irgendwelche Kommentare - welcher sprachlichen und inhaltlichen Qualität auch immer - im Falle ihrer Veröffentlichung auf das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 5 Abs. 1 GG stützen konnten, mussten sich die Nutzer zunächst kundig machen und sich von der Authentizität und Tragfähigkeit dieser Mitteilung überzeugen. Der Urheber des die Kommentare auslösenden Posts hatte dies augenscheinlich selbst erkannt und, quasi als Belegfunktion für die von ihm skandalisierte Äußerung der Antragstellerinn die Zeitung „X“ sowie seinen Blog (per Verlinkung) als Fundstelle angegeben. Bei einer Recherche wäre die Verfälschung des Zitats sofort ersichtlich geworden. Im Ergebnis ist den Kommentierenden damit eine Teilnahme an der von dem Urheber mit dem Ausgangspost initiierten öffentlichen Verächtlichmachung, die sich nicht auf den Schutz der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG stützen kann, anzulasten. Dieser ist in diesem Zusammenhang zivilrechtlich auf Unterlassung sowie Geldentschädigung (vgl. Landgericht X, X) und strafrechtlich unter anderem wegen Verleumdung durch das Landgericht X (vgl.: X.) verurteilt worden.
In der Abwägung ist zu Gunsten des Schutzes des Persönlichkeitsrechts der Antragstellerin und zugleich zu Lasten des Schutzes der Kommentierenden aus Art. 5 Abs. 1 GG zu berücksichtigen, dass ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Politikerinnen und Politikern bei der Verbreitung von Informationen über das Internet im öffentlichen Interesse liegt, da nur dann eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft erwartet werden kann. Es tritt hinzu, dass die Begleitumstände einer von Emotionalität und Erregung geprägten Äußerung den Schutz des Persönlichkeitsrechts erhöhen können. Mag eine ad hoc im Rahmen einer hitzigen Situation erfolgte verbale Verfehlung aufgrund ihrer Flüchtigkeit noch eher zu rechtfertigen sein, so ist bei schriftlichen Äußerungen im Allgemeinen ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung zu erwarten. Das gilt grundsätzlich auch für textliche Äußerungen im Internet. Gleichfalls erheblich ist in diesem Zusammenhang, ob für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand (....).
Alle genannten Gesichtspunkte streiten zu Gunsten des Persönlichkeitsschutzes der Antragstellerin. Der den sozialen Geltungsanspruch der Antragstellerin massiv herabsetzende Ausgangspost wurde durch die zahlreichen diffamierenden Kommentare, die überhaupt nur teilweise zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemacht wurden, in seiner beeinträchtigenden Wirkung noch weiter intensiviert und negativ aufgeladen. Der Senat tritt der Antragstellerin (...) darin bei, dass die Persönlichkeitsrechtsverletzung aufgrund des Verbreitungsmediums über das soziale Netzwerk X, das ca. 32 Mio. Nutzer in Deutschland erreicht, sich als besonders schwerwiegend darstellt, weil dieser Verbreitungsform eine nie dagewesene Öffentlichkeit immanent ist. Besteht, wie hier, aus der Sicht eines durchschnittlich aufmerksamen Lesers indessen – wie ausgeführt - kein nachvollziehbarer Anlass, so muss wegen der zweifelhaften Grundlage bei möglicherweise konstruierten Szenarien davon abgesehen werden, sich ohne weitere eigene Recherchen verbal zu exponieren.
Nach alledem ist dem Persönlichkeitsrecht der Antragstellerin gegenüber dem Recht auf Meinungsfreiheit der Kommentierenden in Abwägung der Umstände des vorliegenden Falles der Vorrang einzuräumen. Dies hat zur Folge, dass auf die Beschwerde der Antragstellerin die richterliche Gestattung gemäß § 14 Abs. 4 TMG a.F. auf Auskunftserteilung wie geschehen auszusprechen war.
Die Kosten des Gestattungsverfahrens in beiden Rechtszügen hat die Antragstellerin gemäß § 14 Abs. 4 Satz 4 TMG a.F. zu tragen.
Kammergericht Berlin, Beschluss vom 31. Oktober 2022 – 10 W 13/20