Darf die Presse Fotos von Angeklagten ohne Verpixelung zeigen – und wenn ja, wann? Dieser Frage widmete sich das Landgericht Karlsruhe im Fall eines Angeklagten der „Gruppe Reuß“, dessen unverpixeltes Foto von RTL in einer Nachrichtensendung ausgestrahlt wurde. Das Gericht entschied: Die Veröffentlichung war rechtswidrig, da das Persönlichkeitsrecht des Angeklagten Vorrang hatte. Warum diese Abwägung so sensibel ist und was das für die Medien bedeutet, erfahren Sie hier.
Der Fall: Unverpixeltes Foto eines Angeklagten in RTL-Sendung
Im Strafprozess um die "Gruppe Reuß" hatte der Fernsehsender RTL in einer Nachrichtensendung ein unverpixeltes Foto eines Angeklagten gezeigt. Das ursprünglich von der Polizei angefertigte Foto aus der Ermittlungsakte des Generalbundesanwalts war ohne Einwilligung des Angeklagten veröffentlicht worden.
Dagegen hatte sich der Beschuldigte bereits im Eilverfahren erfolgreich zur Wehr gesetzt. Nun hat das Landgericht Karlsruhe in der Hauptsache entschieden: Die Veröffentlichung des Fotos war unzulässig.
Urteil: Pressefreiheit vs. Persönlichkeitsrecht
Das Gericht hatte abzuwägen zwischen der Pressefreiheit, die den Medien eine freie Berichterstattung ermöglicht, und dem Persönlichkeitsrecht des Angeklagten, das ihn vor der Veröffentlichung seines Bildes schützt. Grundlage dieser Abwägung sind die Grundrechte des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention, die beide Seiten schützen. Die Rechtsprechung zu solchen Fällen gibt konkrete Kriterien vor, wann eine identifizierende Berichterstattung zulässig ist.
Medien dürfen berichten, aber mit Grenzen
Das Gericht betonte, dass es zu den Aufgaben der Medien gehöre, über Straftaten und ihre Hintergründe zu informieren - auch durch die Abbildung von Personen. Gerade bei schweren oder besonders Aufsehen erregenden Straftaten bestehe ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit, mehr über Täter und Taten zu erfahren. Bilder können hier besonders eindrucksvoll informieren und sind daher grundsätzlich zulässig.
Grundsatz der Unschuldsvermutung
Trotz dieses öffentlichen Interesses gilt der Beschuldigte bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig - ein rechtsstaatliches Prinzip. Wird ein Beschuldigter in den Medien identifizierbar dargestellt, kann dies schwerwiegende Folgen für seine Persönlichkeit und sein soziales Umfeld haben. Eine solche Berichterstattung birgt die Gefahr, dass der Angeklagte bereits vor einem Urteil sozial stigmatisiert wird. Dies gilt insbesondere für Fernsehberichte, die stärker wahrgenommen werden als Texte oder Radiobeiträge.
Konkreter RTL-Fall: Veröffentlichung des Fotos war unzulässig
Das Landgericht Karlsruhe stellte klar, dass es keine allgemeingültige Regel gibt, sondern jeder Einzelfall geprüft werden muss. Im vorliegenden Fall - so das Gericht - überwögen die Rechte des Angeklagten, da die Veröffentlichung seines unverpixelten Fotos unverhältnismäßig in sein Persönlichkeitsrecht eingreife. Die Schwere der vorgeworfenen Tat und das öffentliche Interesse rechtfertigten die Veröffentlichung nicht.
Diese Entscheidung beruht auf mehreren gewichtigen Gründen, die zeigen, warum in diesem speziellen Fall die Rechte des Angeklagten schwerer wogen als die Pressefreiheit.
Unschuldsvermutung: Schutz vor Vorverurteilung
Ein zentraler Grund ist die Unschuldsvermutung, ein Grundpfeiler des Rechtsstaatsprinzips. Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt jeder Mensch als unschuldig. Die unverpixelte Darstellung des Beschuldigten in den Medien setzt ihn jedoch der Gefahr einer öffentlichen Vorverurteilung aus. Die Gesellschaft könnte den bloßen Umstand der Ermittlungen oder des Prozesses mit Schuld gleichsetzen. Diese Gefahr wird durch die hohe
Reichweite und emotionale Wirkung der Fernsehberichterstattung.
Die Gefahr einer Prangerwirkung, bei der der Angeklagte bereits vor einem Urteil gesellschaftlich verurteilt wird, ist hier besonders hoch. Sollte der Angeklagte später freigesprochen werden, wäre der durch die Berichterstattung entstandene Schaden - insbesondere im Hinblick auf sein Ansehen - kaum wieder gutzumachen.
Starke Beeinträchtigung durch Fernsehberichterstattung
Das Gericht betonte, dass eine Bildberichterstattung im Fernsehen weitreichendere Folgen habe als eine reine Textberichterstattung. Ein Bild ist unmittelbar und prägnant, es prägt die Wahrnehmung des Publikums intensiver als Worte allein.
Im vorliegenden Fall zeigte das unverpixelte Foto die Person eindeutig identifizierbar. Ein solcher Eingriff gehe über das hinaus, was zur Information über den Vorgang erforderlich sei. Die Tatsache, dass das Foto aus einer Ermittlungsakte stammt, verstärkt den Eingriff zusätzlich, da es aus einem besonders schützenswerten Kontext stammt.
Fehlender Mehrwert für die Öffentlichkeit
Das Gericht sah in der Veröffentlichung des Fotos keinen erheblichen Mehrwert für die Öffentlichkeit. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit könne auch durch eine anonymisierte Berichterstattung - etwa durch ein verpixeltes Bild oder eine rein textliche Darstellung - befriedigt werden. Die Identität des Beschuldigten war für das Verständnis des Falles oder der Berichterstattung nicht entscheidend.
Gefahr der gesellschaftlichen Stigmatisierung
Besondere Bedeutung kam dem Aspekt der möglichen Stigmatisierung zu. Das öffentliche Interesse an der Berichterstattung rechtfertige nicht, dass der Beschuldigte dauerhaft mit den Vorwürfen in Verbindung gebracht werde. Ein Foto kann im Internet oder in Medienarchiven dauerhaft abrufbar bleiben, was dazu führt, dass die Person auch bei einem Freispruch oder einer späteren Resozialisierung weiterhin mit der Tat in Verbindung gebracht wird. Diese Langzeitwirkung zeigt, wie schwer der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht sein kann - ein Risiko, das im vorliegenden Fall nicht gerechtfertigt war.
Fotos aus Ermittlungsakten dienen nur internen Zwecken
Das verwendete Foto stammte aus der Ermittlungsakte und war ursprünglich für interne Zwecke der Strafverfolgungsbehörden bestimmt. Die Verwendung eines solchen Bildes für die öffentliche Berichterstattung ohne Einwilligung des Betroffenen stellt einen besonders schweren Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Die Herkunft des Bildes verstärke daher das Schutzbedürfnis des Angeklagten.
LG Karlsruhe, Urteil vom 09.10.2024, Az.: 22 O 6/24
Quelle: Pressemitteilung des LG Karlsruhe vom 15.10.2024
Fazit: Pressefreiheit braucht Verantwortung
Die Medien spielen eine wichtige Rolle bei der Aufklärung und Information der Öffentlichkeit. Sie müssen aber sorgfältig abwägen, wie weit sie gehen können, ohne die Rechte Einzelner zu verletzen.
Die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe zeigt, dass der Persönlichkeitsschutz und die Unschuldsvermutung gerade bei Bildveröffentlichungen schwer wiegen.
Für Betroffene ist das Urteil ein Beleg, dass ihr Recht auf Privatsphäre auch in der Medienberichterstattung gewahrt bleibt. Für die Presse bedeutet es, dass Sensibilität und Verantwortung bei der Berichterstattung oberste Priorität haben müssen.