Das Landgericht Berlin hat einem Mieter Schadensersatz nach Art. 82 DSGVO wegen einer datenschutzrechtlich unzulässigen Videoüberwachung des Innenhofs seiner Mietwohnung zugesprochen. Den materiellen Schadensersatz berechnete es auf Basis der geschuldeten Miete. Zur Bemessung der Höhe des immateriellen Schmerzensgelds zog das Gericht die Bußgeldkriterien (Art. 83 DSGVO) heran und berücksichtigte zudem das Verhalten der Beklagten (Kitabetreiberin). Diese hatte trotz Abmahnung, Beschwerden des Hausverwalters und gerichtlichem Versäumnisurteil die Überwachung über einen langen Zeitraum fortgesetzt und sich auch von einer datenschutzrechtlichen Verwarnung nicht beeindrucken lassen (Urt. v. 15.07.2022, Az. 63 O 213/20).
Sachverhalt: Mieter wehrt sich gegen Videoüberwachung eines Innenhofs
Der Kläger ist Mieter in einem Mehrfamilienhaus. Dort wohnt er mit seiner Frau und zwei Kindern. Sein Sohn ist heute 4 Jahre alt. Die Beklagte betreibt eine Kindertagesstätte im selben Haus.
Auf dem Grundstück gibt es eine umzäunte Außenfläche, auf der sich Spielgeräte, Bänke und ein Sandkasten befinden. Das Gelände kann über eine Treppe von der Tiefgarage aus betreten werden; die Tür ist nicht verschlossen. Die Außenfläche kann nur über eine Tür verlassen werden, die in das Zufahrtstor zur Stellfläche eingelassen ist. Sie wird mittels eines Knaufs geöffnet, den Kinder nicht bedienen können.
Im Gewerbemietvertrag, den die Beklagte abgeschlossen hat, ist vereinbart, dass sie die Hoffläche als Spielplatz umbauen und nutzen darf. Die Nutzung des Kinderspielplatzes musste auch für die im Haus wohnenden Kinder tagsüber möglich sein. Nach dem Mietvertrag des Klägers sind die Mietparteien berechtigt, den Innenhof samt Spielplatz zu nutzen.
Im März 2017 installierte die Beklagte in den Kitaräumen eine Kamera, die auf den Innenhof gerichtet war und bei Wahrnehmung von Bewegungen eine Nachricht an eine hinterlegte Mobilfunknummer versandte und anfing zu filmen.
Im Oktober 2017 stellte der Kläger sein Fahrzeug im Innenhof ab, um es für eine Urlaubsreise zu beladen. Die Beklagte beschwerte sich darüber beim Vermieter und bezichtigte den Kläger des Hausfriedensbruchs.
Der Kläger mahnte die Beklagte daraufhin wegen rechtswidriger Videoüberwachung ab und forderte deren Einstellung und die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung.
Klageverfahren vor dem Amtsgericht wegen Unterlassung Videoüberwachung und Datenlöschung
Da die Beklagte nicht reagierte, verklagte der Kläger die Beklagte zunächst vor dem Amtsgericht. Dieses verurteilte die Beklagte zur Unterlassung der Videoüberwachung des Innenhofs, zur Beseitigung der Kamera und Löschung der gespeicherten Daten. Zudem wurde die Beklagte von der Berliner Datenschutzbeauftragten verwarnt. Dennoch setzte die Beklagte die Videoüberwachung fort.
Klageverfahren vor dem Landgericht wegen Schadensersatz wegen Videoüberwachung
Sodann verklagte der Kläger die Beklagte beim Landgericht Berlin und verlangte Schadensersatz für die entgangene Nutzung des Innenhofes sowie Schmerzensgeld wegen des Überwachungsdruckes und der Bezeichnung als Hausfriedensbrecher. Zur Begründung gab er an, dass er sich über einen langen Zeitraum (3/2017 – 12/2019) überwacht gefühlt habe und er in seiner Freiheit und Unbeschwertheit beeinträchtigt gewesen sei. Er habe sich zurückgezogen und ohnmächtig gefühlt. Den Hof habe er während der Videoüberwachung nicht mehr nutzen können. Die Situation habe seine Familie sehr belastet.
LG Berlin: Videoüberwachung begründet Schadensersatz nach Art. 82 DSGVO
Das Landgericht sprach dem Kläger Schadensersatz gem. Art. 82 DSGVO zu, da die Beklagte durch die Videoüberwachung des Innenhofs das Allgemeine Persönlichkeitsrechts des Mieters verletzt und gegen die DSGVO verstoßen hat.
Videoüberwachung = Eingriff in Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Zunächst stellte das Gericht fest, dass die Beklagte mit der Überwachung der Außenfläche des Grundstücks (…) und der Aufnahme, Speicherung und Benutzung der Daten in das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen hat:
„Er durfte selbst entscheiden, ob Videoaufnahmen von ihm gefertigt werden oder nicht. Dennoch hat die Beklagte ohne seine Zustimmung die Außenfläche seit März 2017 bis November 2019 per Video überwacht und ihn dort gefilmt bzw. durch die Überwachung daran gehindert, die Flächen zu nutzen. Die im Termin vorgelegte Aufnahme zeigt, dass nicht nur die Stellfläche, sondern auch der Spielplatzbereich aufgenommen worden sind. Im Hintergrund der Aufnahme sind ein Spielhäuschen und sogar das Nachbarhaus zu erkennen. Die Stellfläche ist der einzige Weg, wie Kinder und deren Eltern den Bereich wieder verlassen können. Sie konnten einer Aufnahme nicht ausweichen, wenn sie den Spielplatz nutzen wollten.“
Videoüberwachung war auch rechtswidrig
Den Einwand der Beklagten, der Eingriff sei nicht rechtswidrig gewesen, wies das Gericht zurück. Die Beklage hatte vorgetragen, die Überwachung ab 3/2017 sei wegen zwei Vorfälle aus Mai 2016 erforderlich gewesen:
„Die Kammer ist bereits nicht überzeugt, dass eine Videoüberwachung erforderlich war. Die Beklagte argumentiert mit zwei Vorfällen aus dem Mai 2016, die die Videoüberwachung ab März 2017 erforderlich gemacht haben sollen. Schon der Zeitablauf seit den konkret vorgetragenen Vorfällen spricht gegen die Erforderlichkeit einer Überwachung, weil es selbst ohne sie keine Vorfälle mehr gegeben hat. (…) Darüber hinaus sind die behaupteten, vereinzelten Vorfälle nicht so schwerwiegend, dass sie eine Videoüberwachung rund um die Uhr und über mehr als zweieinhalb Jahre rechtfertigen könnten.
Ferner ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte mildere Mittel ausreichend in Betracht gezogen hat. So kommt das Aufstellen von Verbotsschildern, eine Abdeckung des Sandkastens außerhalb der Kitazeiten und eine bessere Sicherung des Gerätehäuschens in Betracht. Die von der Beklagten nunmehr praktizierte Sichtprüfung vor Kitabeginn wäre ebenfalls eine Alternative gewesen. Hält man eine Überwachung für rechtmäßig, wäre die Installation von Bewegungsmeldern weniger beeinträchtigend gewesen. Eine Videoüberwachung hätte auf einen kleineren Teil des Geländes, wo Sandkasten und Gerätehäuschen nebeneinanderstehen, begrenzt werden können.“
Eingriff in Allgemeines Persönlichkeitsrecht war auch erheblich
„Sein Allgemeines Persönlichkeitsrecht war erheblich beeinträchtigt, weil er nicht nur befürchten musste, sondern aufgrund der Beschwerden über sein Verhalten auch annehmen musste, dass er jedes Mal beobachtet wird, wenn er den Bereich im Innenhof betritt, auf den die Kamera ausgerichtet war.
Das wog umso schwerer, als es sich bei den beobachteten Flächen um einen Rückzugsbereich handelte, der von der Straße aus nicht einsehbar ist und in dem der Kläger und seine Kinder Freizeit verbringen durften.
Er war neben seinen Kindern berechtigt, den Kinderspielplatz zu nutzen (…). Es liegt auf der Hand, dass ein Benutzungsrecht praktisch nicht ausgeübt werden könnte, wenn kleine Kinder nur berechtigt wären, den Kinderspielplatz alleine aufzusuchen. Kleine Kinder im Alter des Sohnes des Klägers können nicht (…) mit einem "Blick aus dem Fenster" beaufsichtigt werden. Sie bedürfen der Beaufsichtigung vor Ort und Eltern, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind, werden sie nicht alleine auf den Spielplatz gehen lassen, auch wenn es sich um einen Innenhofbereich handelt. (…)
Erschwerend kommt hinzu, dass die Kamera nicht nur rund um die Uhr beobachtete, sondern danach auch (…) speicherte, ohne dass eine zeitliche Beschränkung ersichtlich ist.“
Videoüberwachung begründet Schadensersatzanspruch
Die rechtswidrige Videoüberwachung habe – so das Gericht – auch zu einem Schaden geführt.
„Es lag sowohl ein materieller als auch ein immaterieller Schaden vor. Der Kläger konnte den Außenbereich mit dem Spielplatz nicht mehr nutzen, ohne das Gefühl zu haben, beobachtet zu werden und ohne zu wissen, was mit etwaigen Aufnahmen geschieht. Faktisch hat er sich deshalb an der Nutzung gehindert gesehen, die ihm aber rechtlich aufgrund des Mietvertrages zustand und für die er auch einen Teil des Mietzinses zahlt (…).
Materieller Schaden
Gegen die Berechnung des materiellen Schadensersatzes durch den Kläger auf Grundlage der geschuldeten Miete und der Einschränkung der Gebrauchstauglichkeit hatte das Gericht keine Bedenken.
Immaterieller Schaden
Für die Berechnung der Höhe des immateriellen Schadens könne ab Geltung der DSGVO (Mai 2018) auf die Kriterien für datenschutzrechtlichen Bußgelder (Art. 83 DSGVO) zurückgegriffen werden:
„Jedenfalls für den Zeitraum Mai 2018 bis November 2019 ist Schmerzensgeld nach Art. 82 der DSGVO in der beantragten Höhe geschuldet. Wie der Kläger richtig ausgeführt hat, soll mit der Norm des Art. 82 der DSGVO eine effektive Durchsetzung des Datenschutzes und eine Abschreckung erreicht werden (…). Für die Höhe des Schadensersatzes kann das Gericht auf die Kriterien des Art. 83 zurückgreifen, die für die Höhe eines Bußgeldes bestimmend sind. Danach kann das Gericht berücksichtigen, dass die Beklagte trotz Abmahnung, Beschwerden des Verwalters und gerichtlichem Versäumnisurteil die Überwachung lange Zeit fortgesetzt hat, die Daten offensichtlich noch gespeichert sind und bis heute verwandt werden. Anders als die Beklagte erklärt hat, ist das Verfahren vor dem Datenschutzbeauftragten nicht eingestellt, sondern die Beklagte ist verwarnt worden. Sie hat auch gegen die Pflicht zur Löschung der Aufnahmen verstoßen, indem sie jedenfalls das Foto des Klägers behalten und in der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat. Eine Ausnahme, Aufnahmen für bestimmte Zwecke wie die Strafverfolgung behalten zu dürfen, hat das Amtsgericht nicht ausgesprochen. Mildernd ist zu berücksichtigen, dass die Videoüberwachung mit schützenswerten Kindesinteressen begründet worden ist und das erstinstanzliche Gericht zumindest vorläufig die Rechtsansicht der Beklagten geteilt hat.