Das OLG Hamm hat mit Urteil vom 15.9.2015 entschieden, dass eine umfangreiche Abmahntätigkeit, die sich vollkommen verselbstständigt hat und in keinem vernünftigen Verhältnis zur eigentlichen gewerblichen Tätigkeit des Abmahnenden steht, rechtsmissbräuchlich sein kann.
Sachverhalt
Die Klägerin, die u.a. Briefkästen im Zwischenhandel vertreibt, erwirkte Mitte 2015 gegen einen Hersteller von Briefkästen eine einstweilige Verfügung, die dem Hersteller den Vertrieb von Briefkästen mit den wettbewerbswidrig verwandten Produktkennzeichnungen ʺumweltfreundlich produziertʺ und ʺgeprüfte Qualitätʺ untersagt.
Einen Tag nach der mündlichen Verhandlung in diesem Verfahren führte die Klägerin sog. ʺMarktsichtungenʺ durch, um weitere Verkäufer solcher Briefkästen zu ermitteln. Sie machte ca. 50 Verkäufer ausfindig und beauftragte den für sie bereits tätigen Anwalt, auch diese abzumahnen.
Nach Erhalt eines Vorschusses begann der Anwalt mit dem Versenden der Abmahnungen. Eine Abmahnung erhielt die beklagte, die die Briefkästen im Internet vertrieb. Binnen weniger Tage versandte der Anwalt der Klägerin an insgesamt 43 Verkäufer Abmahnungen, erst danach gingen erste Unterwerfungserklärungen der abgemahnten Händler ein. Innerhalb der ersten sechs Wochen wurden 71 Abmahnungen versendet, die Zahl stieg in Folge auf über 200 Abmahnungen.
Eilantrag vom Landgericht erlassen
Da die Beklagte die Abgabe einer Unterlassungserklärung verweigerte, beantragte die Klägerin den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Beklagte. Diesem Antrag gab das Landgericht statt.
Eilantrag vom Oberlandesgericht wegen Rechtsmissbräuchlichkeit zurückgewiesen
Auf die Berufung der Beklagten wies das OLG den Eilantrag als unzulässig zurück. Ausweislich der Pressemitteilung erachtete das OLG den Eilantrag als rechtsmissbräuchlich:
"Das Verfolgen eines wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruchs ist rechtsmissbräuchlich i.S.d. UWG, wenn es unter Berücksichtigung der gesamten Umstände vorwiegend dazu dient, gegen den Zuwiderhandelnden einen Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen oder Kosten der Rechtsverfolgung entstehen zu lassen. Davon ist vorliegend auszugehen. Die umfangreiche Abmahntätigkeit der Verfügungsklägerin stand in keinem vernünftigen Verhältnis zu ihrer eigentlichen gewerblichen Tätigkeit.
Beim Versand der ersten 43 Abmahnungen, u.a. auch an die Verfügungsbeklagte, ist die Verfügungsklägerin ein erhebliches Kostenrisiko eingegangen. Bei den binnen sieben Tagen versandten Abmahnungen war vernünftigerweise nicht mit dem zwischenzeitlichen Eingang einer nennenswerten Anzahl strafbewehrter Unterlassungserklärungen zu rechnen. Durch ihr Vorgehen hätten der Verfügungsklägerin hohe Kosten entstehen können. Für die 43 Abmahnungen sind bereits Anwaltskosten von über 42.000 € entstanden. Wenn man darüber hinaus berücksichtigt, dass ein nicht unerheblicher Teil der eingeleiteten Abmahnvorgänge in gerichtliche Auseinandersetzungen mündet, erhöht sich das Kostenrisiko noch.
Insgesamt würden Anwalts- und Gerichtskosten von über 250.000 € entstehen, falls ein Drittel der Abmahnvorgänge in der Hauptsache über eine gerichtliche Instanz und ein weiteres Drittel über zwei gerichtliche Instanzen auszufechten sein sollten. Und dies beschreibt eine für die Verfügungsklägerin günstige, moderate Entwicklung. Dieses Kostenrisiko steht in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu der eigentlichen wirtschaftlichen Betätigung der Verfügungsklägerin. Die Verfügungsklägerin tritt lediglich beim Verkauf von Briefkästen und ähnlichen Produkten in Konkurrenz zur Verfügungsbeklagten.
Ordnet man diesem Marktsegment die Werte zum gesamten Jahresüberschuss der Verfügungsklägerin aus 2013 (rd. 5.500 €) und zu ihrem gesamten Eigenkapital aus 2013 (rd. 300.000 €) zu, besteht kein kaufmännisch vernünftiges Verhältnis zwischen Gewinn und Eigenkapital und der zu beurteilenden Abmahntätigkeit mehr. Das Kostenrisiko der Abmahntätigkeit beläuft sich dann auf das etwa 50-fache des erzielten Jahresgewinns. Die mit den Abmahnungen verbundenen Kosten zehren das im Betrieb vorhandene Eigenkapital (nahezu) vollständig auf. Ein derartig hohes Kostenrisiko geht ein vernünftig handelnder Kaufmann grundsätzlich nicht ein."
OLG Hamm, Urteil vom 15.11.2015, Az.: 4 U 105/15 (rechtskräftig)
Quelle: OLG Hamm PM vom 20.11.2015