Die Frage, ob Gestaltungsmerkmale technisch bedingt sind, ist von entscheidender Bedeutung. Denn Erscheinungsmerkmale von Erzeugnissen, die ausschließlich durch deren technische Funktion bedingt sind, sind vom Designschutz ausgeschlossen. Solche Merkmale bleiben auch bei der Bestimmung des Schutzumfangs eines Designs unberücksichtigt. Erstreckt sich die technische Bedingtheit auf alle Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses, so ist das gesamte Erzeugnis vom Designschutz ausgeschlossen. Wann aber ist ein Gestaltungsmerkmal ausschließlich technisch bedingt?
Kein Designschutz für ausschließlich technisch bedingte Gestaltungsmerkmale
Sowohl das Designgesetz (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 DesignG) als auch das Gemeinschaftsgeschmacksmustergesetz (Art. 8 GGV) sehen vor, dass ausschließlich technische bedingte Gestaltungsmerkmale vom Designschutz bzw. Geschmacksmusterschutz ausgeschlossen sind. Dies, da der Schutz von Erfindungen Gegenstand des Patent- und Gebrauchsmusterrechts ist und Designrechte nicht die Freiheit der technischen Entwicklung beeinträchtigen sollen.
Die Vorschriften enthalten nicht nur einen Schutzausschlussgrund, sondern auch einen Schutzerschwernisgrund in dem Sinn, dass ausschließlich technisch bedingte Gestaltungsmerkmale bei der Prüfung der Neuheit und Eigenart ausgeblendet werden müssen. Diese Erschwernis setzt sich im Verletzungsfall fort, bleiben ausschließlich technisch bedingte Erscheinungsmerkmale beim Vergleich zwischen dem geschützten Klagemuster und dem angegriffenen Verletzungsmuster außer Betracht.
Ausschlussgrund wird nicht von Amts wegen geprüft
Weder das DPMA noch das EUIPO prüfen allerdings im Eintragungsverfahren von Amts wegen, ob Gestaltungsmerkmale ausschließlich technisch bedingt sind. Es können daher auch Designs bzw. Geschmacksmuster im Register eingetragen sein, die eigentlich nicht schutzfähig sind. Die Eintragung eines Designs besagt daher nichts über dessen tatsächliche Schutzfähigkeit. Das Design ist ein ungeprüftes Recht.
2018: Grundsatzurteil des EuGH zum Kriterium „technische Bedingtheit“
Zur Ermittlung der technischen Bedingtheit wurden in der Vergangenheit zwei Theorien von den Gerichten in der EU vertreten.
Manche Gerichte vertraten die Ansicht, dass eine technische Bedingtheit nur vorliegt, wenn es keine andere Gestaltungsalternative gibt, mit der dieselbe technische Wirkung erzielt werden kann (Theorie der Formenvielfalt). Diese Theorie wurde in der Vergangenheit auch von deutschen Gerichten favorisiert.
Andere Gerichte stellten hingegen darauf ab, ob das betreffende Gestaltungsmerkmal ausschließlich aus dem Bedürfnis heraus entstanden ist, eine technische Lösung zu entwickeln und dabei ästhetische Erwägungen völlig irrelevant waren (Kausalitätstheorie). Diese Theorie wurde in der Vergangenheit vom EUIPO favorisiert.
Der EuGH tendierte 2018 (EuGH Urteil vom 08.03.2018, C-395/16 DOCERAM/CeramTec) zu einer modifizierten Kausalitätstheorie, führt er im Urteil wie folgt an:
"Aus alledem ist zu folgern, dass Art. 8 Abs. 1 [GGV] den geschmacksmusterrechtlichen Schutz für Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließt, wenn Erwägungen anderer Art als das Erfordernis, dass dieses Erzeugnis seine technische Funktion erfüllt, insbesondere solche, die mit der visuellen Erscheinung zusammenhängen, bei der Entscheidung für diese Merkmale keine Rolle gespielt haben und zwar auch dann, wenn es andere Geschmacksmuster gibt, mit denen sich dieselbe Funktion erfüllen lässt.”
Technische Bedingtheit auch bei Gestaltungsalternativen möglich
Ob ausschließlich technisch bedingte Merkmale vorliegen, ist nach den Vorgaben des EuGH weder allein objektiv vor dem Hintergrund möglicher Gestaltungsalternativen, noch subjektiv nach den Erwägungen des Entwerfers für die Wahl der betreffenden Merkmale zu bestimmen, sondern im Wege einer Gesamtschau unter Würdigung aller konkreten Umstände des Einzelfalles.
Laut EuGH sind Merkmale dann ausschließlich durch ihre technische Funktion bedingt, wenn der alleinige Beweggrund eines Entwerfers für ein bestimmtes Erscheinungsmerkmal das Bedürfnis der Verwirklichung einer technischen Funktion war, während anderweitige Erwägungen (betreffend die visuelle Erscheinung) bei der Entscheidung für das Merkmal keine Rolle gespielt haben. Auch wenn alternative Gestaltungen vorliegen, schließt das nicht automatisch dasVorliegen einer ausschließlichen technischen Bedingtheit aus.
Auch bei technisch bedingten Gestaltungen visuelle Erwägungen möglich
Der BGH stellte zudem klar, dass weder ein Erfahrungssatz noch eine tatsächliche Vermutung dafür bestehe, dass bei der Gestaltung von Erscheinungsmerkmalen, die für eine technische Funktion erforderlich sind, visuelle Erwägungen keine Rolle gespielt haben. Zwar könne - so der BGH - ein paralleles Patent oder Gebrauchsmuster ein Indiz für die technische Bedingtheit eines Erzeugnismerkmals darstellen, jedoch müssen weitere objektive Umstände hinzukommen, um eine ausschließlich technische Bedingtheit eines Merkmals zu begründen.
Beurteilung anhand aller objektiv maßgeblichen Umstände erforderlich
Dabei kommt es nicht auf die Sichtweise eines objektiven Beobachters an. Vielmehr ist auf die objektiven Umstände des Einzelfalls abzustellen. Dies bedeutet, dass sich Gerichte bei der Beurteilung des Schutzausschließungsgrundes nicht mehr ausschließlich auf die Darstellungen des Designs bzw. Geschmacksmusters im Register beschränken dürfen. Designs und Geschmacksmuster sind vielmehr auch anhand von Tatsachen auszulegen, die außerhalb des Registerstandes liegen. Objektive Umstände, die zu berücksichtigen sind, sind z.B. Designalternativen, der konkrete Gegenstand und dessen Einsatzzweck, Werbeunterlagen. Auch Ansprüche, Beschreibungen und Zeichnungen der Patentoffenlegungsschrift für ein Erzeugnis sind für die Bestimmung der ausschließlich technischen Bedingtheit in Betracht zu ziehen (BGH, Urt. v 7.10.2020, I ZR 137/19 - Papierspender)
In Betracht gezogen werden können nur solche parallelen Rechte, die zum Zeitpunkt der Anmeldung des Designs bereits veröffentlicht (Drittanmeldungen) bzw. angemeldet waren (Eigenanmeldungen). Demgegenüber kann es bei der Ermittlung der Motive für eine konkret gewählte Gestaltung nicht auf solche Gestaltungen oder technischen Schutzrechte ankommen, die zum Zeitpunkt der Anmeldung des Designs unveröffentlicht waren, sondern nur auf den zu diesem Zeitpunkt tatsächlich bekannten Formenschatz
Praxishinweis:
Für die Beurteilung, ob Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind, ist also nach Maßgabe aller Einzelfallumstände zu ermitteln, ob diese Funktion der einzige die Erscheinung der Merkmale bestimmende Faktor war und gestalterische Erwägungen dabei keine Rolle gespielt haben. Das Bestehen alternativer Gestaltungsmöglichkeiten ist nicht ausschlaggebend.
Die Abkehr von der auch in Deutschland lange favorisierten „Theorie der Formenvielfalt“ führen dazu, dass vor 2018 angemeldete Designs im Hinblick auf die technische Bedingtheit nunmehr aus Sicht der Kausalitätstheorie zu prüfen sind. Da bei der Prüfung der technischen Bedingtheit auch außerhalb des Registers liegende feststellbare Umstände zu beachten sind, wird die Anmeldung von Designs bzw. Geschmacksmustern für Anmelder nicht einfacher.
Anmeldern ist zu raten, auch bei rein technischen Produkten visuelle Erwägungen anzustellen und zu dokumentieren, um Designschutz auch für solche Produkte zu erhalten.