BVerfG zum „Recht auf Vergessenwerden“ im Internet

Online Archive müssen "Recht auf Vergessen" beachten

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich nunmehr ebenfalls mit dem „Recht auf Vergessen“ im Internetzeitalter zu befassen. Ein vor ca. 40 Jahren wegen Mordes verurteilter Mann hatte vom Spiegel die Löschung alter, über Suchmaschinen auffindbarer, ihn identifizierender Presseberichte in einem Onlinearchiv verlangt. Der BGH hat die Klage abgewiesen, das BVerfG verwies die Klage an den BGH zurück, der nun neu entscheiden muss. Dabei wird der BGH die vom Bundesverfassungsricht in dieser Grundsatzentscheidung aufgestellte Regel beachten müssen, dass die Rechtsordnung den EInzelnen davor schützen müsse, dass sie sich frühere Handlungen zeitlich unbegrenzt von der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss.

Sachverhalt: Artikel über Mord vor 40 Jahren in Spiegel Online Archiv

Der Kläger wurde 1982 rechtskräftig wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er 1981 an Bord einer Yacht zwei Menschen erschossen hatte. „Der Spiegel“ veröffentlichte 1982 und 1983 in der Printausgabe mehrere Artikel über diesen Fall, in denen er den Kläger namentlich benannte. Seit 1999 befindet sich auf SPON ein Online Archiv, in dem auch die den Kläger betreffenden Artikel kostenlos und für jedermann abrufbar sind. Gibt man den Namen des Klägers in die Google Suchmaschine ein, werden die den Kläger betreffenden Artikel unter den ersten Treffern angezeigt.

Betroffener erhebt gegen Spiegel Unterlassungsklage bis zum BGH

Der Kläger wurde 2002 aus der Haft entlassen. 2009 erfuhr er von der Abrufbarkeit der Artikel im Spiegel Onlinearchiv. Er verlangte vom Spiegel die Entfernung der Artikel aus dem Onlinearchiv. Da der Spiegel sich weigerte, erhob der Kläger Unterlassungsklage. Das Verfahren ging hoch bis zum BGH, der die Klage abwies. Der BGH war der Ansicht, dass das Interesse des Klägers am Schutz seiner Persönlichkeit hinter das Recht auf freie Meinungsäußerung des Spiegels zurücktreten müsse, da die Öffentlichkeit ein anerkennenswertes Interesse daran besäße, sich über vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse anhand unveränderter Originalberichte zu informieren.

Betroffener rügte Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Online Archivierung

Gegen die Entscheidung des BGH legte der Kläger beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein. In der Beschwerde machte er geltend, dass er aufgrund der auch noch nach 40 Jahren abrufbaren Onlineartikel in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt sei. Obgleich er selbst mit seiner Tat nicht ins Licht der Öffentlichkeit trete, würden Dritte bei Eingabe seines Namens im Internet stets auf der ersten Seite auf diese Artikel hingewiesen. Dies beeinträchtige ihn in der Entfaltung seiner Persönlichkeit schwerwiegend, da es ihm so unmöglich ist, unbelastete Sozialbindungen einzugehen. Auch nach Ansicht des Klägers stelle seine damalige Tat und der damit verbundene Prozess zwar ein zeitgeschichtliches Ereignis dar. Daraus folge jedoch jedenfalls nach gut 40 Jahren nicht zwingend ein nach wie vor bestehendes öffentliches Interesse an der Nennung seines Namens.

BVerfG: Verfassungsbeschwerde gegen Spiegel Online Archive erfolgreich

Die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Das BVerfG hob das Urteil des BGH auf und verwies die Sache an den BGH zurück.

Abwägung zwischen allgemeinem Persönlichkeitsrecht vs. Meinungs- und Pressefreiheit im Internetzeitalter

Nach Ansicht des BVerfG hat der BGH im Rahmen der Abwägung der sich widerstreitenden Interessen die Besonderheiten des Internetzeitalters nicht ausreichend berücksichtigt.

In die Abwägung seien auf seiten des Klägers das allgemeine Persönlichkeitsrecht einzustellen, das in seinen äußerungsrechtlichen Dimensionen Schutz vor einer personenbezogenen Berichterstattung und Verbreitung von Informationen bietet, die geeignet sind, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich zu beeinträchtigen. Insbesondere schütze dieses Recht vor der Verbreitung personenbezogener Berichte und Informationen im öffentlichen Raum als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses. Auf Seiten des beklagten Verlags sei die Meinungs- und Pressefreiheit heranzuziehen.

Verstrichene Zeit im Rahmen der Abwägung bedeutsam

Das Gericht wies darauf hin, dass im Internetzeitalter dem zeitlichen Moment im Rahmen der Abwägung eine wichtige Rolle zukommt. So genieße nach der Rechtsprechung bei der aktuellen Berichterstattung über Straftaten in der Regel das Informationsinteresse Vorrang vor dem Persönlichkeitsrecht des betroffenen Straftäters. Daher dürfen rechtskräftig verurteilte Straftäter in Presseberichten auch namentlich benannt werden. Andererseits sei aber anerkannt, dass das öffentliche Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Tat abnimmt.

Informationen im Internetzeitalter dauerhaft abrufbar

Sodann wies das Gericht auf die Besonderheiten des Internetzeitalters hin. Während früher Informationen als Printmedien und Rundfunksendungen der Öffentlichkeit nur in einem engen zeitlichen Rahmen zugänglich gewesen und anschließend in Vergessenheit geraten seien, seien Informationen, die ins Netz gestellt werden, heutzutage dauerhaft, d.h. für immer abrufbar. Informationen können daher heutzutage von jedermann jederzeit aufgegriffen, in andere Zusammenhänge gestellt und in Kombination mit weiteren über Suchmaschine erlangten Informationen zu Profilen der Persönlichkeit zusammengeführt werden.

Jeder muss auch im Internetzeitalter Chance auf Neuanfang haben („Recht auf Vergessenwerden")

Diesen Besonderheiten des Internetzeitalters müsse bei der Auslegung und Anwendung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Rechnung getragen werden. Denn dem Einzelnen muss es auch heutzutage ermöglicht werden, persönliche Überzeugungen und das eigene Verhalten fortzuentwickeln und zu verändern. Jeder muss daher die Chance haben, Irrtümer und Fehler hinter sich zu lassen. Die Rechtsordnung müsse daher den Einzelnen davor schützen, dass er sich frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen zeitlich unbegrenzt von der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss. Denn erst das „Vergessen“ vergangener Sachverhalte eröffne dem Einzelnen die Chance zum Neuanfang.

Über „Recht auf Vergessen“ entscheidet jedoch nicht allein der Betroffene

Das Gericht stellte jedoch klar, dass die Entscheidung, welche Informationen als interessant, bewundernswert, anstößig oder verwerflich erinnert werden oder zu löschen sind, nicht allein beim Betroffenen liegt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht räume dem Betroffenen kein Recht ein, öffentlich zugängliche Informationen nach seiner freier Entscheidung und eigenen Vorstellungen zu filtern und auf die Aspekte zu begrenzen, die Betroffene für relevant oder für dem eigenen Persönlichkeitsbild angemessen halten.

Online Archiven kommt wichtige Rolle für öffentliche Debatte zu

Vielmehr sei auch hier die Meinungs- und Pressefreiheit angemessen zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang führte das Gericht aus, dass eine lediglich anonymisierte Berichterstattung eine erhebliche Beschränkung der Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit sowie des Rechts der Presse, selbst zu entscheiden, worüber sie wann, wie lange und in welcher Form berichte, bedeuten würde. Zudem ermöglichen Online Archive eine wichtige Quelle für journalistische und zeithistorische Recherchen und einen einfachen Zugang zu Informationen für jedermann. Schließlich komme Online Archiven auch eine wichtige Rolle im Bereich Bildung und Erziehung sowie für die öffentliche Debatte in einer Demokratie zu.

Regeln für Abwägung „Recht auf Vergessen“ in Online Archiven

Sodann stellte das BVerfG Regeln für die von den Gerichten vorzunehmende Abwägung auf:

1. Danach darf ein Verlag anfänglich rechtmäßig veröffentlichte Berichte grundsätzlich auch in ein Onlinearchiv einstellen.

2. Ein Verlag muss Schutzmaßnahmen erst vorsehen, wenn ein Betroffener sich an ihn gewandt und seine Schutzbedürftigkeit näher dargelegt hat.

3. Für die Frage, welche Bedeutung verstrichene Zeit für den Schutz gegenüber einer ursprünglich rechtmäßigen Veröffentlichung zukomme, lieg ein wesentlicher Aspekt in Wirkung und Gegenstand der Berichterstattung, insbesondere darin, wieweit die Berichte das Privatleben und die Entfaltungsmöglichkeiten der Person als ganze beeinträchtigten.

4. Neben dem neu gewonnenen Kontext der Berichte und dem zwischenzeitlichen Verhalten des Betroffenen, ist auch bedeutsam, in welcher Einbindung die Informationen unter den konkreten Umständen im Netz kommuniziert würden. Die Art und Schwere der Belastung der Betroffenen hänge nämlich auch daran, wieweit Informationen im Internet breitenwirksam gestreut werden (z. B. ob und wieweit sie von Suchmaschinen prioritär kommuniziert werden).

5. Zudem seien Abstufungen hinsichtlich der Art möglicher Schutzmaßnahmen seitens der Presseverlage zu berücksichtigen. Anzustreben sei ein Ausgleich, der einen ungehinderten Zugriff auf Originalberichte möglichst weitgehend erhalte, diesen bei Schutzbedarf - insbesondere gegenüber namensbezogenen Suchabfragen mittels Suchmaschinen – jedoch einzelfallbezogen hinreichend begrenze.

BGH hätte mögliche Schutzmaßnahmen seitens des Spiegels prüfen müssen

Nach Ansicht des BVerfG hätte der BGH daher prüfen müssen, ob der Spiegel nach der Monierung des Betroffenen nicht zumutbare Vorkehrungen hätte treffen können und müssen. So hätte der Spiegel z. B. Maßnahmen ergreifen können, die der Auffindbarkeit der Originalberichte über Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen entgegenstehen, ohne die Auffindbarkeit und Zugänglichkeit des Originalberichts im Übrigen übermäßig zu hindern.

BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13

Praxishinweise:

Der EuGH hat bereits 2014 ein "Recht auf Vergessen" im Internet bestätigt (EuGH, Urteil 13.05.2014). In diesem Urteil anerkannte der EUGH, dass Betroffene nach einem gewissen Zeitablauf ein "Recht auf Vergessenwerden" haben können. Auch hier wandte sich der Betroffene gegen die Auffindbarkeit von ihn betreffenden Artikeln in der Google Suchmaschine nach Eingabe seines Namens in die Suchmaschine. Der EuGH führte in dem Urteil aus, dass Google unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet ist, von der Google Ergebnisliste Links zu von Dritten veröffentlichten Internetseiten mit Informationen über diese Person zu entfernen.

In der Folgezeit beschäftigten sich auch deutsche Gerichte mit dem "Recht auf Vergessen". So hatte sich z. B. das LG Frankfurt a.M. in seinem Urteil vom 26.10.2017 mit der Frage zu beschäftigen, ob das "Recht auf Vergessenwerden" einen Ex-Geschäftsführer berechtigt, von Google die Entfernung von Suchergebnissen zu 6 Jahre alten Berichten über seine Geschäftsführertätigkeit zu verlangen. Das Gericht verneinte einen Anspruch, da auch nach Ablauf von 6 Jahren nach wie vor ein öffentliches Interesse an der konkreten Berichterstattung besteht.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht stellt nun klar, dass auch bei der Online Archivierung von identifizierenden Artikeln das "Recht auf Vergessen" angemessen zu beachten ist. Erhebliche Bedeutung kommt auch wieder dem Zeitmoment und dem Gegenstand und des AUswirkungen der in Rede stehenden Berichterstattung zu. Wenn auch nicht der Artikel im Online Archive zu löschen ist, sind möglicherweise jedenfalls solche Schutzmanßnahmen zu ergreifen, die eine Auffindung des Artikels über Suchmaschinen nach einer Namenseingabe verhindern. Dies gilt auch bei Artikeln über zeitgeschichtliche Ereignisse.